Über das Album

Marzipan? „Ja. Für Liebhaber ist die Herstellung von Marzipan eine Wissenschaft für sich, ein tiefes Vergraben in die Details, Zutaten, Herstellungsprozesse. Und je mehr man weiß und ausprobiert, umso zielsicherer steuert man auf ein herausragendes Erlebnis und Ergebnis zu. Ungefähr so läuft bei mir das Komponieren und Arrangieren der Songs ab. Für mich ist der gleichnamige Titelsong auch das Kernstück des Albums und nicht ohne Grund das opulenteste. Mit Vorsatz alles richtig groß gemacht, mit ’nem James Bond-Teil für die Mitte. Es war mit ‚Schmetterlinge‘ das erste neue Stück, das ich für diese Platte schrieb, und wirkt mit seiner dramatischen Spannung wie das Gefühl direkt nach einer vollzogenen Trennung, die ich zu der Zeit tatsächlich gerade durchgemacht hatte – schwer und erleichtert zugleich. Irgendwie gab der Song damit den Rahmen und den Spannungsbogen für alles weitere vor.“

Angesichts der seit Jahren anhaltenden Dauerbegeisterung für die Großtaten als Allround-Musiker, Komponist, Arrangeur und Produzent ist Marco Schmedtje bislang im Grunde skandalös unterbekannt – wohl eine Begleiterscheinung der stets fehlenden Ruhe für mehr Soloalben. Ob an großen Theatern zwischen Hamburg und Wien, in Profistudios als sichere Bank an Instrument und Reglern oder seit nunmehr 20 Jahren als ständiger Side- (oder besser: Main-)Kick an der Schulter eines der profiliertesten und vielseitigsten deutschsprachigen Sängers: Jan Plewka. Von der Rockband Zinoba über dramaturgisch anspruchsvolle und visuell eindrückliche Liederzyklen zu Simon & Garfunkel und Rio Reiser/Ton Steine Scherben oder, wie ganz aktuell, heruntergebrochen auf die maximal reduzierte Magie des leisen Duos mit ihrem Programm „Between the Bars“: Sobald Jan Plewka jenseits von Selig ein Ton auf einer Bühne entfleucht, hat Marco Schmedtje garantiert das gesamte klingende Drumherum entworfen und gestaltet. Wie auch „Wann, wenn nicht jetzt“ belegt, das unlängst erschienene Bild- und Tondokument eines Konzertes vom neuen, zweiten Rio Reiser-Programm von Jan Plewka und der Schwarz-Roten-Heilsarmee – einmal mehr produziert von Schmedtje, der 360-Grad-Qualitätsmaschine im Hintergrund.

Nun also „Marzipan“, ein selten schönes und rundes kleines Meisterwerk aus zehn kunstvollen Kompositionen, zugleich virtuosem und lässigem Gitarrenpicking, lyrischen Texten und einem enorm feinen Gespür dafür, was jeder einzelne Song braucht. Für diesen letzten Teil, der klanglichen Ausgestaltung, suchte sich Schmedtje ebenfalls einen kongenialen Partner: Produzent und Engineer Lars Ehrhard, mit dem er „Marzipan“ aufnahm und bereits an seinem vorherigen Soloalbum „18“ erfolgreich kollaboriert hatte. „Ich sitze oft an meiner Gitarre, spiele Riffs und Melodien – und plötzlich hat man da was“, erzählt Marco. „Das ist wie Goldgräberstimmung. Ich merke: In diesem kurzen Stück oder kleinen Baustein steckt viel drin, und da möchte und muss ich dann tiefer graben. Immer mehr davon entdecken und ausprobieren, weil ich das Gefühl habe: Das ist ne verdammt gute Melodie. Ihr dann den perfekt dazu passenden Song und Text zu liefern und gestalten, ist der Prozess, um den es mir beim Songschreiben geht. Das ist ein bisschen wie beim Marzipan.“

Heißt: Für „Marzipan“ durfte und sollte es klanglich einmal das große Besteck sein, aber nicht als alles voll kleisternde Zucker- und Sahne-Wand, sondern als sachdienliche Ergänzung jedes einzelnen Songs. „Gerade an dem Teil haben wir sehr konzentriert gearbeitet“, berichtet Marco. „Klar, man kann bei jedem Song endlos Schichten und Klänge ergänzen, kennt man ja aus den Pop-Produktionen im Radio. Aber darum ging es nicht. Wir haben uns bei jeder Ergänzung sehr genau gefragt: Braucht es die? Macht es den Song besser oder schöner? Oder kann man sie genau so gut weglassen?“ Schon deshalb sei die Arbeit des Editierens und wieder Rausschmeißens einzelner Tonspuren fast gleichbedeutend mit den eigentlichen Aufnahmen gewesen. Man höre sich hierzu nur „Für Elise“ an, das in der Klangästhetik äußerst reduziert beginnt und sich mit konzentrierter Motorik immer weiter auffächert, lauter und kraftvoller wird (und im übrigen nicht ohne Grund einen Titel trägt, der an Beethoven erinnert – aber hören Sie selbst).

In den Songs erzählt er – so wie das auch schon auf den beiden Soloalben „Schöne Geister“ und „18“ der Fall war – von sich und Ereignissen aus seinem Leben. Dies jedoch in so poetisch offener Weise, dass jeder Hörer seinen eigenen Bezug zu den Texten aufbauen kann und etwa in das „Du“ vieler Songs ebenso einen Partner wie einen Freund, Bruder oder auch einen treuen Hund hinein lesen kann. Ihm gefalle das eben sehr, sagt Schmedtje, wenn man immer versteht, worum es in dem Text eigentlich geht, die letztliche Deutungshoheit der Worte aber abgebe an den Hörer, der aus den Liedern für sich das macht, was tatsächlich mit seinem Leben zusammen hängt. Ein kaleidoskopischer Blick auf das Leben, aus dem Blick des Künstlers und mit den Erfahrungen und Emotionen des Hörers.

So beschäftigen sich zwar einige Songs mit dem Thema Trennung – für Schmedtje zum Zeitpunkt der Aufnahme ein persönlich vorherrschendes Thema. Aber durch die große Zeitspanne, aus denen die Songs stammen – einige von ihnen sind bereits vor längerer Zeit entstanden -, vermied er, „dass das Ganze so ein melodramatisches Trennungsalbum wird. Es sind auch Songs darunter, die ich rund um das Kennenlernen der späteren Mutter meiner Kinder schrieb.“ Im Grunde feiern die Songs in ihrer Gesamtheit damit nun den gesamten Zyklus einer Partnerschaft – von der Euphorie des ersten Moments bis zur Apathie, wenn man nach der Trennung wieder allein ist und an die Wand starrt. Oder: Das Marzipan des Lebens.